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Wie man's macht

Ania Faas „Planet Marseille oder Rap an der Côte Obscure

Immer mehr Muslime werden in Deutschland alt, immer mehr von ihnen sterben hierzulande. Bahri Deniz hat jeden Tag mit dem Tod von Migranten zu tun. Der Berliner Bestattungsunternehmer pendelt zwischen Friedhof und Flughafen, deutscher Bürokratie und türkischen Trauerriten.

Das Taxi kostet ein Vermögen, die Gangster sprechen kein Englisch, der Kommissar stinkt nach Fisch - Inspector Doyle hasst Marseille. Korrupte und Kriminelle, wo er auch hinschaut, Neger, Araber, verfallene Häuser, muffige Gassen. Brötchen ohne Mayonnaise und zu allem Überfluss: Pastis. Nur reines Heroin ist schlimmer. Gene Hackman genehmigt sich erst einmal einen Whisky, bevor er auf Verbrecherjagd geht. Nach 90 Minuten hat er den Albtraum auch schon überstanden und darf zurück in die USA. Der Film "French Connection" wurde in den siebziger Jahren zum Welterfolg. Doch in Frankreichs Tor zum Orient ging das Leben einfach weiter, und die Wirklichkeit überholte die Fiktion. Kaum war die Ölkrise vorbei, streikten die Arbeiter ihren Hafen zugrunde. An den verbliebenen Schiffen gab es für Franzosen ebensowenig zu tun wie für die Eingewanderten aus den Ex-Kolonien. So wurde das Wasser sauberer, aber die Atmosphäre im Schmelztiegel giftig. Und der Ultrarechte Le Pen mit seinem Front national (FN) brachte den Rassismus ins Rathaus. Heute blickt hier manche Familie auf drei Generationen Arbeitslose zurück. An Freizeit herrscht kein Mangel. Sozialarbeiter, Integrationstheoretiker und Parteien im Wahlkampf mühten sich ab mit fruchtlosen Versuchen, die Jugendlichen von der Strasse wegzuholen, von Drogen, Autoradios und den Handtaschen der wenigen Touristen. Bis wieder ein Phänomen aus den USA einreiste: Rap, die Musik aus dem Ghetto, die Musik für Arme, die es sich nicht leisten können, ein Instrument zu erlernen, die Musik der Revolte. Der Rap blieb, denn in Marseille hatte er sein Thema gefunden. Ausgehend von den HLM-Plattenbauten der Banlieues, bahnte sich die neue Bewegung ihren Weg ins Zentrum. Mittlerweile sind es mehr als dreihundert Bands, die mit Koffern voller Schallplatten und seitenweise gereimter Wut die Chronik ihrer Generation schreiben. Workshops werden abgehalten, CDs aufgenommen, aber "le tchatch", die Mitteilung, zählt mehr als Showbiz. Musik ist eine Sprache, die jeder versteht, und Rap ist, in Krisenzeiten, keine Mode, sondern eine Philosophie. Wie man sie auslegt und unter die Leute bringt, ist eine Frage des Stils.

"Massilia Sound System" aus Marseille geben ein Gastspiel im benachbarten La Ciotat. Schon eine Stunde vor Einlass drängt sich die Menge am gusseisernen Tor. Sechs bewaffnete Sicherheitskräfte, männliche und weibliche, tasten sich durch die T-Shirts und übergrossen Jacken, suchen nach Messern und Drogen, vertreiben unerwünschte Gäste, die behaupten, Freunde der Musiker zu sein. Weiter hinten beschimpft eine schwedische Touristin zwei dunkelhäutige Burschen, die ihre Eintrittskarte geklaut haben und jetzt unschuldige Gesichter aufsetzen. Ringsum wird gelacht, siegessicher ziehen die beiden Delinquenten Richtung Kontrolle davon. Innen ist Platz. Nicht einmal halbvoll der Kiesboden unter den Pinien, als der Act des Abends endlich beginnt. Die Musiker doppelt so alt wie der Durchschnitt des Publikums. Auf der Bühne steht eine Legende. Eine Legende des französischen Reggae, einstige Gründerväter des Hip-Hop und die Schulmeister des Rap. Ihre Message ist Selbstbewusstsein. "Wer gehört zu uns? Nur die, die uns verstehen . . ." Wer nicht aus der Gegend kommt, hat jetzt keine Chance mehr, denn "Massilia" singen auf okzitan, in der Heimatsprache des Languedoc - für französische Ohren ein Dialekt. Das Publikum kennt die Texte und stimmt begeistert ein. Der Jubel steigert sich, als die Standarten okzitanischer Selbstbestimmung ins Scheinwerferlicht gerückt werden, die Fans toben, die Fahnen wehen. Bizarr dazu der dröhnende Beat, die Band im Rapper-Outfit mit kurzen Hosen. Wer nicht dazugehört, sucht Halt in Vergleichen mit Veranstaltungen aus Folklore, Autonomie-Politik oder auch Karneval, denn er kann und soll nicht verstehen. Einer von vielen Pfeilern der Musikszene in Marseille ist eben der Regionalismus.

Eine andere Nacht, derselbe Sternenhimmel, noch mehr Watt: Pascal Perez alias Imhotep, der Sound-Architekt der Band "IAM", überwacht die Dreharbeiten zum Videoclip ihrer neusten Singleauskopplung. Immer wieder müssen ein paar Kids die Treppen in einem Hochhaus hinunterrennen, bis der Kameramann die Einstellung im Kasten hat. Der Titel "Wir sind nicht unter demselben Stern geboren" wird als unglückliche Liebesgeschichte verfilmt, fasst aber zusammen, warum es heute so schwer ist, in Marseille vom Typischen, vom regionalen Charakter, von einer Szene zu sprechen. Zu viele unterschiedliche Elemente prägen das Mosaik, meint Imhotep: "Es gibt in Marseille ein sehr seltsames Phänomen, eine Art Scheinheiligkeit. Das heisst, es gibt Leute, die die ultrarechte Partei Front national wählen, aber zugleich ganz gut in einem Gebäude wohnen können, wo auch Leute von der Elfenbeinküste leben, Farbige, Araber. Sie sagen, ich wähle FN, aber ich habe arabische Freunde. Eine angespannte Lage. Ich weiss nicht, wie das zusammenhält und warum das Ganze nicht explodiert ist, damals, als die Plakatkleber des FN den jungen Rapper Ibrahim Ali getötet haben. Da hätte es zu Ausschreitungen kommen können, aber die Familie und einige einflussreiche Leute haben die Wogen glätten können. Ich glaube, das hält nur für den Augenblick, denn sollte der FN eines Tages wirklich in Marseille an die Macht kommen, würde der geringste Anlass genügen, und alles ginge in die Luft wie ein Druckkessel. Es gibt so viele Waffen, soviel Mafia, so viele Gangster, da müssten die Dinge nur ein klein wenig aus dem Gleichgewicht geraten, und wir hätten einen neuen Western."

Am hellichten Tag ist Marseille, "la Planète Mars", ein Ort, um Klischees zu sortieren. Die Sonne scheint und weicht die Widersprüche zwischen Religionen und Kulturen auf. Hier hat jeder Berg seine eigenen Propheten. Weisse, Schwarze, Farbige aller Schattierungen. Wären die Fassaden und Plätze der Altstadt nicht so romantisch, fühlte man sich an Manhattan erinnert. Das Sprachengewirr klingt nach Babylon, Moscheen und Kirchen, Souk und Supermarkt liegen nah beieinander. Das Klischee von einer hermetischen Rap-Gemeinde nach amerikanischem Vorbild kann hier im Midi von Natur aus nicht greifen. Die Okzitanisten haben ihren festen Platz neben der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Aus der Sicht der Musikindustrie wachsen die Blüten des französischen Rap in Paris. In Marseille dagegen möchte man gerade den Wildwuchs pflegen.

Abseits der Öffentlichkeit sind es einzelne Personen, die die Kontinuität der musikalischen Kultur sichern. Zu ihnen gehört auch Ferdinand Richard, der sich mit seiner Organisation für innovative Musik (AMI: Aide aux Musiques Innovatrices) in einer ehemaligen Fabrik im Viertel Belle de Mai angesiedelt hat. Er ist selber Musiker, und seine Band hat jüngst den Namen geändert. Aus "Ferdinand et les philosophes" wurde "Ferdinand et les diplomates". Doch der Schein trügt: in dem verwinkelten Büro der "Friche Belle de Mai", wo man sich neben abgetakelten Möbeln und Papierstapeln kaum umdrehen kann, ist die Entscheidung zwischen Philosophie und Diplomatie nie gefallen. Mindestens beides brauchen die etwa vierzig Mitarbeiter von AMI, um Besucher, Benutzer und Ansässige der Kulturfabrik unter einen Hut zu bringen. Im Erdgeschoss liegen die drei spartanischen Übungsräume der Abteilung Hip-Hop, darüber ein Konferenzraum und Hallen mit nackten Betonwänden und Industriefenstern. Hier proben aber auch Theatergruppen, ein japanisches "Bambus-Orchester", Radio Grenouille sendet aus dem Nebengebäude, regelmässige Workshops bilden neue DJs, Texter oder Tänzer aus. Die Schirmherren der "Friche" pfeifen auf flüchtige Moden und Berührungsängste. Gut ist, was vorwärtsbringt.

Ferdinand Richard ist im richtigen Alter, um Jazzfan zu sein. Trotzdem räumt er dem Rap die wichtigere Rolle ein, denn "er ist intelligent und kann die Dinge dauerhaft verändern. Durch seine Vielfalt und Kunstfertigkeit und vor allem durch die ausgefeilte Sprache kann er in jedes Milieu eindringen. Für die Herrscher von Vitrolles, für die Leute vom FN wird es wesentlich schwieriger sein, sich des Rap zu entledigen, als in den USA, wo man ihn einfach als <gangsta-rap> verteufelt. Hier kann man kaum so etwas tun, denn der Rap kommt mit seiner Poesie überall hin. Das ist subversiv." Welchen Stellenwert die Kulturfabrik "Friche" mittlerweile in der verstreuten Marseiller Rap-Gemeinde hat, misst sich am Grad der Missbilligung durch die, die dort nicht mitmischen dürfen oder können. "In der <friche> hält sich doch jeder Kabelträger für einen Künstler", "die machen sich ein schönes Leben vom Geld der Kulturbehörde", "wenn ich die Jungs von <iam> da im schwarzen Benz über den Hof fahren sehe, wird mir schlecht", so tönt's aus den Reihen derer, die insgeheim auf die grosse Chance warten. Dabei keimt hier die Lösung für ein altes Problem der "Marsianer": der Musikproduktion mangelt es an Infrastruktur. Noch immer muss man zähneknirschend bekennen, dass an Paris kein Weg vorbeiführt. Dort sitzen die Plattenfirmen, die Produzenten, dort sitzt das Geld, selbst für die Pressung einer CD muss man sich in die Hauptstadt bemühen. Doch auf dem Planeten in der Provence praktizieren letztlich alle das "Système D" - D wie Débrouillard: irgendwie zurechtkommen, auf eigene Faust, mit Phantasie und, in vielen Fällen, mit Allahs Hilfe.

Am Fuss der Hügel von St-Joseph haben sich "Up Town" in einem Sozialbau den Traum vom eigenen Studio verwirklicht. Die massive Stahltür im Hausflur öffnet sich erst nach dem Check per Gegensprechanlage. Eine steile Kellertreppe führt nach unten. Auf festgestampftem Lehmboden, unter blanken Heizungsrohren entlang biegt man zweimal um die Ecke und steht in der "Kave". Weisse Wände, ein neues Sofa, Fernseher und Videogerät, links die Tür zur Tonkabine. Winzig, aber schallisoliert und mit allen technischen Produktionsmitteln ausgestattet. Hier komponiert und produziert Mastermind Moux für seine Band. Heute ist allerdings Namor zu Gast, dessen melodischer Stil im krassen Gegensatz zum branchenüblichen Böse-Rapper-Image steht. Auch in den verrufenen Quartiers Nord ist man vom musikalischen Terror längst abgekommen, von "dieser Hass-Schiene". Der freundliche Umgangston passt zu den Begrüssungsritualen. Manager Jackie schlägt seinem Kumpel auf die offene Handfläche, dann treffen sich Faust und Faust und werden ans Herz geführt. Von Identität ist die Rede, von neuen Texten und von der Konfrontation Paris - Marseille, über die mit dem kometenhaften Aufstieg von "IAM" noch nicht das letzte Wort gerappt sein darf. Frankie ist viel herumgekommen. Vor 1989 war er mehrmals in Halle und Leipzig, danach in Westdeutschland. "Was für ein Abstieg - in den finstersten Kapitalismus." Er schwärmt von der Wärme und Herzlichkeit der Ostdeutschen, und plötzlich schwebt der Vergleich im Raum: Paris, der kalte Westen, und Marseille als rauher, aber herzlicher Osten? Die Mauer auf französisch?

Drei Kilometer mit Bus Nummer 31, nach Downtown. Zu Fuss durch die Einkaufsmeile Rue Paradis: Edelmode, Brillen, Uhren, der Virgin-Megastore ist am Wochenende total überfüllt. Verwinkelte Strassen führen wieder nach oben, auf einer hohen Säule ruht die Marmorbüste von Homer, die Geschäfte werden kleiner, Afroperücken, tunesische Lebensmittel, Cous-Cous, neben knusprigen Hühnern drehen sich Hammelschädel am Spiess. Am Ende einer Treppe, mit Blick auf die Hauptkirche Notre-Dame-de-la-Garde, liegt der Cours Julien. Ein bunter Platz, geprägt von den Insignien der Alternativszene. Cafés, ein Spielplatz, ein Brunnen, viele Kinder und in den Auslagen Rot, Grün, Gelb, die Farben des Reggae, Ballonmützen, Pfeifen. "Wir leben im Zentrum, aber das ist auch ein Ghetto", sagt Jazz trotzig. Vorauseilender Einwand gegen das allgegenwärtige Klischee, dass Rap in die Vororte gehört . . . Und doch sind die Parkbänke, auf denen man unbehelligt einen Tag verbringen kann, das Wohnzimmer von Malé, Jazz, Pierre und ihrem Manager Néné. Auch "Carré Rouge" träumen von Ruhm, immerhin haben sie vor kurzem in Paris gespielt, bei einem Hip-Hop-Wettbewerb im berüchtigten Industrievorort Mantes-la-Jolie. Aber ohne eigene Übungsräume fehlt es ihnen manchmal am rechten Antrieb. Néné hat ein Presseheft zusammengestellt, einen Schriftzug malen und T-Shirts bedrucken lassen, Merchandising gehört zum Handwerk. Dann verliess der DJ nach einem Streit die Band, und der Sommer kam, die Hitze macht die Nacht zum Tag, wie geschaffen, um herumzuziehen, zu reden, auf die einen zu warten, die anderen zu treffen, zu flirten und Allah einen guten Mann sein zu lassen. "Hundeleben" heisst eins ihrer Stücke, und mit wenig Sozialhilfe und viel Système D machen sie das Beste daraus. Das Leben ist ein Spiel.

Oder auch nicht. Weiter westlich liegt das Neubauviertel Savine. Nach dem Aufstieg über die Hauptstrasse hat man einen Panoramablick über die Stadt und das glitzernde Meer. Die Ärmsten wohnen ganz oben. Wo sich der zentrale Platz inmitten der pastellfarbenen Hochhausgruppe zu einer Beton-Arena und einem kleinen Fussballfeld öffnet, steht eine Telefonzelle. Beziehungsweise das, was nach dieser Nacht davon übrigblieb. Ein Haufen Glasscherben auf der Erde neben dem Stahlgerippe, der Hörer baumelt lose an seiner Spiralschnur. Auf einem Moped sägen zwei Jugendliche vorbei und schwenken triumphierend eine Trikolore. In den Debatten des Stadtparlaments taucht diese Gegend nur als "sozialer Brennpunkt" auf, doch in der Mittagssonne wirkt das Leben im Ghetto seltsam beschaulich. Unter den Büschen plaudern einige verschleierte Frauen. Der kleine Khaled trägt ein Trikot von Bayern München, das ihm der Vereinsnachwuchs nach einem Freundschaftsspiel gegen die algerische Jugend verehrt hat. Hier ist das Revier der Rap-Band "45 Niggaz". Ihr geistiger Vater, der Gassenarbeiter Ahmed, nennt Rap in einem Atemzug mit Fussball, Arbeit und dem Sinn des Lebens. Mit Mitte Zwanzig hat er bereits den Status einer Respektsperson erreicht, eines Weisen mit dem Titel "Professeur Smoke". Er nimmt "ses gars" überallhin mit, auch in sein Büro im Zentrum, "damit sie sehen, was ich mache, und dass auch einer aus dem Ghetto etwas werden kann".

"Der Begriff <band> ist viel verbindlicher als im Rock oder Jazz. Im Rap, im Hip-Hop ist damit eine Sippe gemeint. Bei den Kleinen, den ganz Jungen, ist das familiäre und soziale System zerbrochen. Also ist ihr dringlichstes Bedürfnis eine neue Gruppe. Deshalb ist auch alles Unsinn, was über Integration geredet wird. Die Kids sind komplett integriert, sie sind zu sehr integriert in ihre Ghettos. Man muss sie hauptsächlich desintegrieren. Man denkt, irgendwann werden sie zu uns stossen, aber so läuft es nicht. Sie haben sehr starke Bindungen, aber eben nicht unsere, die Familie, der Staat, die Regierung, der ganze Kram - damit haben sie nichts zu tun, das ist klar. Dagegen sind sie Teil von Bands, Sippen, Posses, die Leute vom <massilia> sprechen sogar von Galeeren." Was Ferdinand Richard als Theorie formuliert, ist für Ahmed das tägliche Brot. Er ist ein Mann der Praxis. Die "Niggaz" haben gerade ein Demoband aufgenommen, als ihr Manager verhandelt er in Paris über Produktionsmöglichkeiten, organisiert Proben und Aufnahmen, Tag und Nacht. Nur der Samstag ist heilig, da wird Fussball gespielt. Für das gute Image seiner Schützlinge tut Ahmed alles. Auf dem Cover einer CD wären sie gut aufgehoben.

Dagegen wirkt die Konzeptgruppe "Da Mayor" wie ein anachronistischer Zusammenschluss von Intellektuellen, ein lebendes Bild aus einem Salon des 19. Jahrhunderts. Von Jack, dem Komponisten, ist in der Regel nur ein gebeugter Rücken zu sehen. Und während er vor dem Bildschirm sitzt und einen Loop nach dem anderen auf die Festplatte des gigantischen IBM-Brain rechnet, schafft sein Vortrag über Hip-Hop-Kultur locker den Bogen von der Psychopathologie des Alltags über Politik zur klassischen Musik. Das muss keine zehn Minuten dauern:

"Wir hören alle Arten von Musik. Um Rap zu machen, muss man andere Musik hören als Rap. Durch die DJs lebt das Vinyl weiter, und im Hip-Hop gibt es eine sehr starke musikalische Kultur, eine Art Gedächtnis der Musik. Um Hip-Hop zu machen, muss man einen guten Sound finden. Klar, Töne kann man auch mit einem Computer erzeugen, aber der ersetzt nicht den gewachsenen Sound, wie er aus einem Berg von Schallplatten kommt. In den Platten steckt ja auch der typische Tonfall der verschiedenen Epochen drin. Im Hip-Hop muss man sehr gut mischen, und man braucht eine Klangfarbe. Man kann es vielleicht mit der ganz besonderen Farbe eines Schwarzweissfilms vergleichen, mit dieser Schönheit, die aus der Vergangenheit stammt. Und so leiht man sich dieses musikalische Filetstück, nimmt es aus seinem ursprünglichen Zusammenhang und lässt es in einer neuen Musik weiterleben. Rap ist ein gesellschaftliches Phänomen, denn er hat eine direkte Verbindung mit der Vergangenheit, mit den Traditionen. Er ist offen für eine sehr grosse Bandbreite von Musik. Und zugleich hat er eine Renaissance der wahren französischen Musik erst möglich gemacht."

Unablässige Bewegung, reden, rauchen - kein Alkohol. Im ersten Stock über dem Konzertsaal des "Affranchi" fällt das Improvisierte kaum auf, die übervollen Aschenbecher, die abgewetzten Sessel. Wichtig ist nur, dass die glasklare Quadrophonie und das Mischpult Jacks technischen Ansprüchen genügen. Die Sängerin Gwladys kann ihre Stimme in der Aufnahmekabine nicht hören und probiert es mit einer anderen Position vor dem Mikro. "Soll ich mich hierhin stellen?" - "Es ist dein Leben", antwortet Lionel, der Korse, Beleuchter und Anheizer von "Da Mayor". Er liegt auf dem Boden und dichtet, aber für einen kleinen Kommentar zum Thema hat er jederzeit Kapazitäten frei.

"Die erzählerische Struktur unserer Stücke ist die eines Romans. Es stimmt, dass die Form eher aus der Poesie stammt, aber das liegt nur daran, dass die Technik dieselbe ist, die Technik des Reims, das ist alles. Ich bin übrigens sicher, dass es Poesie gibt, die gerappt werden kann. Du verbindest sie mit deinem Stil, indem du eine Auswahl triffst und Akzente setzt. Jacques Prévert zum Beispiel. Irgend jemand macht doch gerade einen Sampler aus seinen Texten, oder? Das wundert mich nicht, denn Typen wie Prévert, Eluard oder Aragon reden von denselben Problemen wie wir. Ihre Dichtung war realistisch, Poesie ihrer Zeit. Auch die von Brassens. Es ist schon komisch, dass es so viele Gemeinsamkeiten mit diesen Leuten gibt, die gar nichts mit Hip-Hop zu tun hatten. Warum? Weil sie mit und an der französischen Sprache gearbeitet haben. Und ich finde, darin liegt genau die Leistung: heute einen Realismus in dem Gegenstand zu finden, den du behandelst, aber eben in einer Form, die gut ankommt. Rap soll nicht abstossend sein. Er soll dir eine Weltanschauung zeigen, er ist eine Art Blues. Aber weil wir jung sind, weil wir mit den Bildern der Gewalt und mit der Nähe zu all diesen Dingen aufgewachsen sind, haben wir eine Reaktionsfähigkeit, die stärker ist. Wir haben nicht mehr den Blues der sechziger, siebziger Jahre, das ist was anderes. Wir haben den Blues im Kopf, und dazu die Schlagkraft eines Bruce Lee. Eigentlich gibt es nur zwei Orte, an denen Regeln, Gesetze und Rituale der einzelnen Sippen keine Rolle spielen: das Fussballstadion und den Strand. "Egal, ob Olympique Marseille gerade gut oder schlecht steht, wir unterstützen die Mannschaft, denn sie gehört zum Image unserer Stadt. Es ist eben ein Traum, der keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Auch der Fussball ist ein grosses Business geworden, aber trotzdem bleibt das Stadion ein Ort der Zusammenkunft und des Austauschs." Die Rapper von "IAM" haben eine umstrittene Fussballhymne geschrieben und stehen ganz offen zu ihrer Leidenschaft, die von manchen ihrer Fans als spiessig abgetan wird. "Da Mayor" denken wie immer ein wenig subtiler: Jack vergleicht die Logistik eines Spiels mit dem Drama des Lebens, und natürlich fällt es ihm leicht, auch gleich die Parallele zur Musik zu ziehen. "Wenn du dir anschaust, wie die aus Paris den Ball treten, verstehst du, warum sie andere Musik machen als wir. OM sind so elegant, so spielerisch . . ."

In Badehose sind alle Menschen gleich. Die Plage Prado ist gut erreichbar, das Wasser sammelt sich gefällig und kniehoch in der kleinen kreisrunden Bucht, auf den Rasenflächen bleibt neben sonnenbadenden Familien genug Platz für drei Fussballmannschaften und eine Runde des brasilianischen Kampfsports Capoeira, samt Instrumenten. Hierher flieht man vor der drückenden Hitze in der Stadt, der Übungskeller, der Studios. Rap ist Arbeit, aber jetzt kommt das Wochenende. Marseille kann so schön sein. Unter dem grossen blauen Himmel sind sie einfach Kids, die ohne Musik nicht leben wollen. Über die dröhnenden Beats aus dem mitgebrachten Recorder beschwert sich keiner. Der Sprechgesang wird vom Wind mal übers Wasser, mal zu den Bergen getrieben, Nuancen überhört man leicht, Hauptsache, es groovt. Oder, um es umgangssprachlich im Sinne des Rap auszudrücken: "Unsere Philosophie steht auf drei Pfeilern: Mystik, Realismus und Humor. Das sind drei unabdingbare Elemente, ohne die die Texte langweilig wären. Wir versuchen also, die Mystik mit Humor zu nehmen, die Realität mystisch zu sehen und Humor realistisch zu machen."</massilia></band></iam></friche></gangsta-rap>

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Ania Faas


Ania Faas studierte Philosophie und Politische Wissenschaft, war Mitgründerin eines Berliner Verlags, produzierte Dokumentarfilme in Hamburg und Valencia (Spanien), kam als TV-Kulturredakteurin zum Journalismus und durch die NZZ zur Zeitung. Seit 1998 schreibt sie Reportagen für die „Zeitbilder“ und andere Printmedien in Deutschland, der Schweiz und Frankreich, meist in den Ressorts Gesellschaft und Wirtschaft. Regelmässige Reisen nach West- und Ostafrika. Migrationshintergrund, drei Kinder, Wohnort Hamburg.
Dokumente
Planet Marseille oder Rap an der Côte Obscure (PDF)

erschienen in:
Neue Zürcher Zeitung,
am 20.06.2000

 

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